LONGYEARBYEN – HAUPTSTADT ZWISCHEN NATUR UND TOURISMUS

 

LONGYEARBYEN – HAUPTSTADT ZWISCHEN NATUR UND TOURISMUS

60. bis 63. Reisetag

Longyearbyen / Spitzbergen (78°14,0´N, 015°37,0´E)

LONGYEARBYEN – HAUPTSTADT ZWISCHEN NATUR UND TOURISMUS

Longyearbyen

Im Logbuch steht: 17:23, NW 6kn, Seegang1, bedeckt, Einlaufen Isfjord, Crew wohlauf. Seit dem frühen Morgen sind wir an der hier ungeschützten Westküste Spitzbergens entlang nach Norden gesegelt.

300 Seemeilen im Westen liegt Grönland, zwei Tagesreisen (seemännisch: Etmale) entfernt. Unglaublich. Dazwischen nichts als arktischer Ozean.

Breaking Waves

Vom Südkap Spitzbergens bis zu den Untiefen in der Einfahrt zum Isfjord warnt der „Den norske los“, das offizielle Seehandbuch des norwegischen Seeamtes und der „Arctic Pilot“ des UK Hydrographic Office wiederholt vor „breaking waves“.  Man mag sich ungern vorstellen, wie das Meer hier bei einem ausgeprägten Weststurm aussieht. Wir sind froh über den gemütlichen Wind der uns jetzt langsam in den mit 50sm zweitlängsten und sehr breiten Isfjord geleitet. Zwei große, auslaufende Kreuzfahrtschiffe kommen uns entgegen, und einige kleinere Ausflugssboote laufen mit uns, als wir nach 20 Meilen den Kurs über Steuerbord in den Adventfjorden ändern. Nach fast einer Woche ohne nennenswerten Schiffsverkehr und ohne Zivilisation, nähern wir uns unübersehbar der Touristenhochburg Spitzbergens, Longyearbyen. 1906 als Kohlebergbausiedlung gegründet, leben die gut 2000 Einwohner der Siedlung heute zu einem großen Teil vom Tourismus. Viele von Ihnen leben als Expats hier nur für wenige Jahre.

Ankunft

Wir gleiten zunächst langsam am Flughafen vorbei, der am Fuß eines der hier typischen Plateauberge erbaut wurde. Wir passieren ein paar kleine Reparaturwerften und rufen den Hafenmeister mit der Bitte um Zuweisung eines Liegeplatzes über Funk an. Die sind überschaubar. Die Anzahl der Yachten und Schiffe aber auch. Wir zählen vier kleinere Frachter, fünf große bis sehr große Kreuzfahrer die z.T. auf Reede warten müssen, ca. fünfzehn kleine Kreuzfahrer und Ausflugsboote, acht Kojencharteryachten und fünf private Yachten. Der „Hafen“ besteht aus einer kleinen Pier für die Frachter und aus zwei floating Pontoons: einem für die Kreuzfahrer und einem für den Rest. Für die wenigen Yachties reicht es jedenfalls. Wir werden von mehreren Skippern anderer Boote sehr freundlich längsseits gewinkt und finden um 21:00 Uhr einen guten Platz auf der schwellgeschützten Landseite des Pontoon in zweiter Reihe. Fast alle liegen hier im Päckchen (d.h. zwei oder mehrere Boote liegen parallel nebeneinander an der Pier). Die Stimmung ist sehr entspannt und hilfsbereit. Und noch etwas fällt auf: hier haben GFK-Rümpfe Seltenheit. Außer einer großen Oyster und einem Katamaran sehen wir nur Stahl oder Aluminium bei den Yachten. Und sie sind groß. Wir, mit unseren 77 Fuß, bewegen uns angenehm unauffällig im Mittelfeld.

Longyearbyen – eine Arktissiedlung sucht ihren Weg in die Zukunft

Die Häuser der kleinen Siedlung, die sich vom Hafen aus ein kleines Tal hinaufzieht, sind nüchterne Zweckbauten. Obwohl keiner von uns je dort war, sie wirken auf uns, wie einer Kleinstadt in Alaska entsprungen. Nicht unbedingt schön, aber arktisch stabil. Für das nur wenige Kilometer lange Straßennetz fahren erstaunlich viele Autos. Dem Liegeplatz gegenüber liegt ein großer Busparkplatz. Die in Reihe abgestellten, modernen Linienbusse wirken, wenn man aus den Weiten der Barentssee und der Einsamkeit des Gletscherfjordes Hornsund hier ankommt, völlig fehl am Platz. Sie dienen fast ausschließlich dem Transport der Touristen vom fünf Kilometer entfernten Flughafen zum Ort, bzw. vom Kreuzfahrtanleger in unserer Nachbarschaft zum  einen Kilometer entfernten Ort. Bei über 80.000 Besuchern jedes Jahr scheint das notwendig. Zumindest zum Flughafen ist  ein Transportmittel tatsächlich notwendig. Den unmittelbaren Siedlungsbereich darf man wegen des Risikos von Eisbärenbegegnungen nur mit Waffe verlassen. Und tatsächlich gibt es selbst im Ort immer mal wieder einen neugierigen oder hungrigen Bären. Das Risiko ist nicht groß, aber real. Und es gibt leider auch tödlich verlaufende Aufeinandertreffen. Für beide Seiten … Im ganzen Archipel gilt deshalb die Regel, Türen niemals abzuschließen, um jedem die Möglich zur Schutzsuche zu bieten.

„please respect our privacy – we are no reindeers“

Am nächsten Morgen gehen wir zum Verwaltungssitz der Gouverneurin, der auf einem kleinen Hügel über Stadt und Hafen liegt. Der Sysselmannen (in diesem Fall eine Frau) vertritt auf Svalbard die norwegische Regierung, hat Polizeihoheit und verantwortet den Rettungsdienst. Als Individualreisende muss man für den Besuch der Regionen außerhalb des zentralen Isfjords eine Genehmigung beantragen und Rettungsstrategien, eine Abbergeversicherung, eine grundsätzliche Befähigung zum Reisen in arktischen Gewässern, eine Waffe und ein Satellitentelefon nachweisen. Dies hatten wir schon vor Monaten getan und wenige Wochen vor Törnbeginn auch die Genehmigung erhalten. Mit den Unterlagen unter dem Arm betreten wir nun den Neubau in moderner skandinavischer Holzarchitektur. Wie überall hier ziehen wir uns im Vorraum die Schuhe aus und stehen kurz darauf in einer großen freundlichen Halle mit sagenhaftem Ausblick durch Panoramafenster auf Hafen, Fjord und die gegenüberliegenden schneebedeckten Berge, die in der Sonne leuchten. Was für eine Aussicht. Eine sehr freundliche Mitarbeiterin nimmt sich unser an, prüft unsere Genehmigung und die Crewliste, stempelt alles ab und erklärt uns geduldig die zu beachtenden Befahrens- und Betretungsverbotszonen des Archipels. Etwa 40 Yachten besuchen Longyearbyen pro Jahr. Nur wenige gehen weiter nach Norden. Bisher sind wir das einzige Schiff mit deutscher Flagge. Das ganze dauert 15 Minuten und wir sind wieder draußen. Nach dem Besuch des kleinen aber lohnenden Arktismuseum, ergänzen wir unsere Vorräte im Supermarkt, leihen die vorher reservierte zweite Büchse im Waffenladen aus und schlendern durch die einzige, etwa 800m lange Einkaufsstraße und Fußgängerzone. Zu beiden Seiten ziehen sich vielleicht hundert Wohngebäude, ein paar kleine Hotels und Lodges und eine Kirche die Hänge es Tals hinauf. Nach kurzer Zeit sind wir hügelaufwärts am Ende des „Zentrums“ angekommen und unser Blick geht zurück zum Hafen. Uns stockt etwas der Atem. Von unten herauf schiebt sich eine Masse Mensch. Es scheint, ein Kreuzfahrer hat die Pforten geöffnet. Ich schätze 800 Personen, die sich durch den Ort, das heißt diese eine Straße mit wenigen Souveniershops, einigen Restaurants, einem Geschäft für Felle und Tierpräparate usw., in einem Pulk in unsere Richtung bewegen. Die Kameras und Handys fotografieren um die Wette. In einigen Geschäften und Fenstern lesen wir: „please respect our privacy – we are no reindeers“. Es ist wohl nicht einfach, die Balance zwischen erwünschtem und lästigem Tourismus zu finden.

Gibt es einen verträglichen Tourismus in der Arktis ?

Etwa 80.000 Touristen besuchen die Inselgruppe pro Jahr. Die Hälfte davon kommt als Kreuzfahrer. Auch Angesichts der zahllosen Motorschlitten, die offensichtlich für winterliche Touristenfahrten in die Gletscherwelt bereit stehen, können wir uns eines deutlichen Unbehagens nicht erwehren. Kann eine so sensible, noch in Teilen unberührte Natur einen solchen Andrang überstehen? Es ist mir zu einfach, uns zu den guten Touristen zu zählen. Nur weil wir mit einem kleinen Schiff hier sind und uns wenn möglich segelnd fortbewegen, hinterlassen wir Spuren. Doch neben der schieren Menge Mensch bleibt bei uns der Eindruck zurück, dass die Natur von vielen nur als Kulisse, als bloße, dekorative Abwechslung in einem ansonsten satten Leben wahrgenommen wird. Kann man die Arktis in ihrer demütig machenden Intensität  erleben, in sie eintauchen, sie hören, spüren, riechen mit allen Sinnen wahrnehmen und zu verstehen suchen, wenn man ein Schiff mit Hunderten, ja Tausenden teilt, durch schalldichte Scheiben von der Kälte getrennt ist, der immerwährende Lärm von Generatoren und Klimaanlagen alles Säuseln des Windes und Knistern des Eises übertönt?

Ratlos schauen wir dem Treiben zu

Wer die im Souvenirladen angebotenen Felle und Präparate von Tieren, die hier zum Teil gar nicht vorkommen, kauft, hat der wirklich ein Interesse sich mit der Arktis auseinanderzusetzen?

Wir möchten weiter

Wir möchten weiter: durch den Forlandsundet die Westküste hinauf nach Norden, die Nordküste entlang nach Osten, Nordaustland sehen und durch die berüchtigte Hinlopenstrasse wieder gen Süden, um die Umrundung Spitzbergens zu versuchen. Auf den neuesten Eiskarten sehen wir: noch blockiert hier eine massive 9/10 Eisbedeckung die Gewässer im Südosten des Archipels. Aber uns bleibt noch mehr als eine Woche Zeit, bis wir uns entscheiden müssen, ob wir umkehren oder den Umrundungsversuch wagen können.

 

Behind the Curtain:

Beobachtungen und Gedanken am Wegesrand

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